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Darwin in der Stadt : Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel / Menno Schilthuizen

Es beginnt mit einer Stechmücke: der renomierte Evolutionsbiologe Menno Schilzhuizen steht in einem überfüllten Verbindungsgang der Londoner U-Bahn und beobachtet eine frisch geschlüpfte Stechmücke des Gattung Culex pipiens molestus. Die Gegenwart von Stechmücken in modernen U-Bahnsystemen mag vielen egal sein und einige wenige beunruhigen. Tatsächlich ist diese Stechmücke unter dem Namen London Underground mosquito in die Wissenschaft eingegangen, da sie ein frühes Beispiel für den Nachweis der schnellen Evolution einer Spezies in der Stadt ist, denn ihre genetisch je nach U-Bahn-Stollen voneinander verschiedenen Ausprägungen ernähren sich oberirdisch von Vogel-, unterirdisch jedoch von Menschenblut. Schilthuizen, dessen Naturleidenschaft bereits in früher Jugend in einem damals ländlich geprägten Vorort von Rotterdam entstand, nimmt uns nach diesem Auftaktkapitel mit auf die Reise in die Welt der modernen Evolutionsforschung und ihre atemberaubenden Erkenntnisse bezüglich der urbanen Auswirkungen auf die beschleunigte Evolution von Tieren und Pflanzen.

Tatsächlich können Biologen heute faktisch in Echtzeit zuschauen, wie sich Flora und Fauna an die extremen Bedingungen in Städten anpassen: Städte bieten in Form von unbesetzten Nischen, warmen Zonen und nährstoffreichem Müll einige Vorteile, denen mit Lärm, Verschmutzung, Lichtfülle und Verkehr aber auch etliche Risiken gegenüberstehen. Erstaunlicherweise haben sich in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Spezies erfolgreich an die extremen Bedingungen der immer dichter besiedelten menschlichen Städte anpassen können.

So zählen die Amseln, eher scheue Waldbewohner, zu den erfolgreichen Neubürgern in der Stadt: ihre Flügelanatomie hat sich dabei deutlich verändert, sie singen lauter als ihre Vorfahren im Wald und sind dabei, sich zu einer eigenen Art zu entwickeln. Welse haben sich in einer Kleinstadt in Frankreich darauf spezialisiert, die ebenfalls ans Stadtleben angepassten Tauben beim Baden im flachen Wasser zu fangen und zu verspeisen, Krähen lassen Nüsse von Autos knacken und manche Pflanzen gleichen durch eine Mutation den hohen, normalerweise wachstumsstörenden Zinkgehalt des Bodens unter Laternenmasten. Anderswo warten Kojoten an Ampeln, entwickeln sich städtische Sittichpopulationen auf einem eng umgrenzten Raum mit stark lokal geprägtem Genpool.

Von der Kohlmeise bis zu Winterammern, vom Rotluchs bis zu lichtscheuen Motten zählt die Bandbreite der Beispiele. Erfolgreichen Anpassungen stellt der Autor auch Sackgassen gegenüber, die entweder durch menschliche Gegenmaßnahmen wie der Vergrämung und Bejagung unerwünschter Neozoen entstanden oder durch tragische Verwechslung: der australische Prachtkäfer beispielsweise meint in den braunen, mit einer bestimmten Oberflächenstruktur versehenen Flaschen einer bestimmten australischen Biermarke ein gigantisches Weibchen zu erkennen – und verschmäht deshalb beim Sex die Weibchen der eigenen Art, was sich naturgemäß nicht günstig auf die Reproduktionsrate auswirkt.

Schilthuizen weiß spannend zu erzählen und verknüpft geschickt anschauliche Beispiele aus der wissenschaftlichen Praxis und eigene Beobachtungen mit dem aktuellen Forschungsstand der Evolutionsbiologie. Sein Buch räumt mit dem Klischee auf, dass Evolution ein langsamer Prozess der Anpassung und Selektion ist, und grenzt dabei die vorgestellten Erkenntnisse auch gegenüber anderen, durch Epigenetik oder Lernen erklärbaren Veränderungen ab. Dabei erklärt er verständlich die verschiedenen Typen von Evolution. Ein überaus spannendes und hochaktuelles Buch, beschleunigt der Klimawandel und die Nutzung vieler Landflächen doch den Druck auf viele Arten, sich neue und nicht selten eben städtische Lebensräume zu erobern. Gern empfohlen für alle, die spannende Bücher aus der aktuellen Wissenschaft zu schätzen wissen.

2 Kommentare zu “Darwin in der Stadt : Die rasante Evolution der Tiere im Großstadtdschungel / Menno Schilthuizen

  1. Danke für deine Besprechung. Sie ist sehr anschaulich und mitreißend geschrieben.
    Als Junge auf dem Land las ich mit Schaudern die Geschichte von der mageren Feldmaus, die die Stadtmaus besucht. Die prahlt mit der vollen Speisekammer, in die sie jeden Tag spazieren kann, aber verschweigt die Mausefallen und die Hauskatze. Inzwischen bin ich zur dicken Stadtmaus mutiert. Hat nur 20 Jahre gedauert. 😉

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    • Danke für die freundlichen Worte und Entschuldigung für die späte Antwort. Ja, das Leben in der Stadt ist so eine Sache … auch wenn der Artenreichtum offenbar mehr in der Stadt als auf dem Land gegeben ist, kann auch einem wie mir, der seit je in der Großstadt lebt, das Stadtleben mit der Zeit schon zu viel werden.

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