Die norwegische Journalistin und Autorin Erika Fatland hat sich schon mal mit der Sowjetunion – genauer: mit dem, was sie zurückgelassen hat – beschäftigt. Reiste sie für „Sowjetistan“ durch die zum Teil überaus bizarre Welt der ehemaligen, heute selbstädnigen Sowjetrepubliken, deren Name auf -stan endet, hat sie sich für das vorliegende Buch auf eine noch weitere Reise gemacht: über 20.000 Kilometer reist sie an der Grenze Russlands entlang und so um dieses flächenmäßig immer noch größte Land der Erde. Sie kommt dabei durch 14 Länder, darunter Nordkorea und Aserbaidschan, Litauen und Finnland, reist in der Arktis und im Kaukasus, durch Steppen und über Berglandschaften und besucht dabei auch Länder wie Abchasien, die zwar auf der Karte verzeichnet sind, aber von kaum einem anderen Land der Welt anerkannt werden.
Im Fokus ihres Reiseberichtes stehen dabei neben einem gewissermaßen von außen gezeichneten Bild des gegenwärtigen Russland und seiner aktuellen Situation, der überaus faszinierenden, wechselhaften Geschichte der Region und ihrer Teilgebiete die Begegnung mit den unterschiedlichsten Menschen: Sie begegnet Fremdenführern und Taxifahrern, Akademikern und Nomaden, Flüchtlingen und Minderheiten, alten und jungen Menschen, Menschen, die krieg erlebt haben und Vertreibung. Sie lässt sich ihre Geschichten und Erlebnisse erzählen und trägt so ein ganzes, von individuellen Schicksalen und aktuellen Zuständen gefärbtes Kaleidoskop zusammen der Regionen, die Russland umgeben und deren Geschichte und Gegenwart noch immer mit der Sowjetunion und zum Teil ihren Vorläufern verbunden ist. Das Können der Autorin zeigt sich dabei besonders in ihrer Fähigkeit, Geschichte und Politik im Schicksal der Menschen sichtbar zu machen und so ein sehr viel tieferes Verständnis auch für aktuelle politische und gesellschaftliche Gegegebenheiten der besuchten Regionen zu schaffen als dies je nüchterne länderkundliche und historische Informationen zu leisten vermögen.
Die Erlebnisse in den einzelnen Ländern unterscheiden sich dabei stark: während Nprdkorea Reisende kaum aus den Fittichen der regimetreuen Reiseleiter lässt und offene Gespräche kaum möglich sind, erlebt sie in anderen Ländern auf bei kritischen Fragen Offenheit. Nicht selten muss sie Umwege in Kauf nehmen wegen Grenzstreitigkeiten oder anderen Konflikten, erlebt irrwitzige bürokratische Reisehemmnisse und umständlich zu bereisende Regionen, in denen Fahrpläne und Abfahrtszeiten stets nur Empfehlungen sind und manche Straßen kaum befahrbar. Die Folgen der jahrzehntelanden Sowjetherrschaft sind vor allem in den Ländern, die direkt unter russischem Einfluss standen, heute noch zu spüren: demokratische Strukturen sind keineswegs in allen Ländern selbstverständlich, in einigen gar reiner Schein bei gleichzeitigem, an alte Sowjetzeiten erinnernden Personenkult. Regimekritik ist oft, aber nicht immer möglich, und bei vielen Menschen, denen sie begegnet, sind neben den Schatten der Weltkriegszeit auch jene der Sowjetära noch spürbar – ob durch eigenes Erlebnis oder tradierte Familiengeschichte.
Erika Fatland ist ein überaus spannender Reisebericht gelungen, der weit aus dem Genre herausragt und die Reiseerzählung an sich mit Geschichte und Politik zu verbinden weiß. Eine anregende Lektüre, die man kaum aus der Hand legen mag, für alle, die Reiseberichte der etwas anderen Art zu schätzen wissen.
Pingback: Blogbummel August/September 2019 – buchpost
Ich habe damals „Sowjetistan“ mit sehr viel Begeisterung gelesen und lese auch bald Fatlands neuestes Abenteuer. Wie offen und respektvoll sie über die Länder und die Menschen schreibt, ist großartig. Viele Grüße
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Ja, Fatland ist unbedingt lesenswert. Eine anregende Lektüre von „Die Grenze“ und herzliche Grüße von Jarg
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