Es gibt Romane, die einen mit großer Kraft immer tiefer in ihre Erzählung hineinziehen, bis man gebannt Seite für Seite liest und dem Fortgang der Geschichte kaum mehr entkommen kann. Ein solcher Roman ist Nina Jäckle mit dem schmalen, doch unerhört gehaltvollen Roman „Zielinski“ gelungen:
Scheuch, von dem wir zunächst wenig mehr wissen als dass er allein wohnt, einer Arbeit nachgeht und einen Hauch von Verwahrlosung in sich trägt, bekommt eines Tages unerwartet einen Mitbewohner: dieser lässt eine blaue Kiste in Scheuchs Wohnung aufstellen, ausgeschlagen mit dunklem Samt, und zieht wenig später ein, mit nichts mehr als dem Namenschild „Zielinski“ auf der Kiste und einem Stuhl darin. Zielinski ist perfekt gekleidet, frisiert und gepflegt, hat tadellose Umgangsformen und erteilt Scheuch ungefragt Rat- und andere Schläge.
Scheuch beginnt an seiner Wahrnehmung zu zweifeln, fragt sich, ob Zielinski wirklich da ist und verliert zusehends den Kontakt zur Wirklichkeit.
Er verliert seine Arbeit, damit sein Einkommen und beginnt, Rechnungen nicht mehr zu bezahlen. Mehr und mehr nimmt seine Verwahrlosung zu und sein Verlust zur Realität, bis er am Ende vollkommen von seinem gewohnten Leben, seinem Selbst entfremdet ist und es keinen Weg mehr zurück zu geben scheint – und keine Rettung.
Nina Jäckle gelingt in verknappter Sprache und mit großer literarischer Kraft das Protokoll einer schleichend zunehmenden Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsverschiebung, die den Leser – er durch die Erzählungen Scheuchs mit dessen Augen blickt – nachhaltig in Bann aschlägt und ihn schliesslich verwirrt, ja verstört zurücklässt. Die radikal subjektive Perspektive Scheuchs nimmt auch den Leser gefangen, der dem logisch erscheinenden Wirklichkeitsverlust Scheuchs ebenso zwanghaft folgen muss, da es kein Entrinnen daraus zu geben scheint. Verschwommen, variabel erscheint die schmale Grenze zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit, und so wenig, wie Scheuch am Ende weiß, wer er ist, wissen wir, ob es Zielinski wirklich gibt und wofür er tatsächlich steht: für eine tiefe Lebenskrise, für den Verlust des Selbst, der eigenen Integrität und Identität im Tausch gegen den Wahn oder für das dünne Eis der Realität, dass rasch zerbrechen kann.
Ein kafkaesker, verstörender und beeindruckender Roman, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.
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Einen schönen guten Tag, ich habe Ihren Kommentar zum Buch „Zielinski“ von Nina Jäckle gelesen; phantastisch. Und nun wollte ich Ihnen mitteilen, dass Frau Jäckle einen neuen Roman geschrieben hat, „Der lange Atem“, in dem sich wieder ihr großes literarische Talent beweist. Vielleicht ineressiet Sie das ja. Mit herzlichen Grüßen
Paul Schröder
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Hallo Herr Schröder,
danke für den Kommentar und – nein, das neue Buch von Jäckle ist meinem Medienradar noch entgangen. Bis jetzt. Vielen Dank!
Herzlich grüsst
Jarg
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