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Ist schon in Ordnung / Per Petterson

„‚Lest das hier, Jungs, dann versteht ihr vielleicht besser, was es heißt, für ein Ziel zu kämpfen!‘ Arvid stöhnte, aber ich habe das Buch gelesen, lese es jetzt zum dritten Mal. Es heißt ‚Martin Eden‘ und ist von Jack London. Ich hatte ‚Der Ruf der Wildnis‘ und ‚Der Seewolf‘ gelesen, fast alle, die ich kenne, habe diese Bücher gelesen, aber nur Arvid und ich kennen ‚Martin Eden‘, und wir geben es nicht aus der Hand.
Das Buch hat etwas, die Schinderei hat etwas, und nachdem ich es gelesen hatte, wusste ich sofort, dass ich Schriftsteller werden wollte, und wenn es mir nicht gelingen würde, wäre ich ein unglücklicher Mensch.“
(Per Petterson: Ist schon in Ordnung. – S. 48-49)

Oslo, Norwegen in der 1970er Jahren. Der 18jährige Audun Sletten wohnt mit seiner gleichgültig ihr Leben lebenden Mutter in einem Arbeiterviertel und trägt nebenher Zeitungen aus. Sein alkoholkranker, prügelnder Vater hat die Familie verlassen, Auduns Bruder Egil starb bei einem Autounfall und seine Schwester Kari ist längst mit ihrem halodrihaften Freund zusammengezogen und hat ein Kind mit ihm. Audun selbst verbirgt seine Gefühle, seine Verletzungen und albtraumhaften Erfahrungen hinter einer geradezu lakonisch erscheinenden Gelassenheit, den alles „ist schon in Ordnung“ für ihn.
Doch während Audun beschliesst, die Schule abzubrechen, einfacher Arbeiter und wenn möglich Schriftsteller zu werden, denkt er zurück an seine Kindheit: In Rückblenden erinnert sich an seinen Vater, der bei der Geburt seines Bruders dreimal in die Wohnungsdecke schiesst, prügelt, trinkt und schliesslich wortlos aufbricht ohne Wiederkehr. Audun selbst kam mit 13 Jahren, nachdem er in den Sommerferien allein wochenlang in einer Papphütte am Bahndamm gelebt hat, in eine neue Schule und blockt dort und anderswo fortan alle Versuche anderer Menschen ab, die ihm nahekommen wollen. Auf Fragen nach seiner Herkunft, seiner Familie reagiert er ausweichend, werden die Fragen intensiver, äußert sich Auduns Unwillen, eine Antwort zu geben, in jäher Wut. Nur mit seinem Freund und Klassenkameraden Arvid kann er reden. Beide teilen eine Vorliebe für amerikanische Autoren und die Freundschaft hält bis in die Gegenwart.

„‚ Und ob das kalt ist‘, sagt er etwas unsicher, denn es ist nicht länger so kalt, heute Morgen war es kalt, und mir fällt jetzt nichts mehr ein, und das Einzige, was wir hören, ist das braune Pferd, das unten auf der Weide schnaubt. Es ist unruhig, es nickt mit dem Kopf und geht rückwärts. Wir können nicht sehen, wovor es Angst hat, aber es springt auf steifen Beinen herum, und plötzlich dreht es sich um und kommt im Galopp auf uns zu. Es geht ganz schnell, unerwartet und heftig, und jetzt sieht das Pferd ziemlich merkwürdig aus, denn es ist schön, und auch wenn die Welt voller schöner Dinge ist, kommt es einem jedes Mal wieder merkwürdig vor, wenn man sie sieht. Und was wir sehen, ist ein Tier, dessen Ohren angelegt sind, die braune Haut dampft, die Beine sind nur noch Schatten unter dem Bauch, und das Geräusch der Hufe auf dem Boden rollt auf uns zu, wie ein Zug, der Schienenstöße passiert. Ich spüre, wie Arvid erstarrt, ich packe ihn an der Schulter und erstarre ebenfalls, auch wenn Pferde etwas sind, mit dem ich aufgewachsen bin, und bevor es uns umrennt, sehe ich alles um mich herum ganz klar, den tiefblauen Herbsthimmel, die gelben Bergrücken, ja, fast jedes einzelne Blatt ganz nah und fernglasscharf in der klaren Luft, ich hole tief Luft und brülle ‚HEHOOO! Das Pferd ändert auf der Stelle die Richtung und bricht nach rechts aus, es galoppiert noch zwanzig Meter weit und bleibt stehen, schnaubt mit bebenden Flanken, dann beugt es den Hals und zupft ein paar Grashalme aus dem Boden, als wäre nichts gewesen.“ (a.a.O., S. 40)

So schreitet Auduns Leben fort zwischen dem öden Leben der Vorstadt, seinen Träumen und Erinnerungen, der ungewissen Zukunft und den Momenten der Freundschaft zu Arvid. Doch als eines Tages überraschend Auduns Vater wieder auftaucht, gerät alles, was Audun bisher so gut an Gefühlen in sich verborgen hat, in Bewegung …

„Als ich nach draußen komme, regnet es. Schwer und heftig, die Wände der Blocks werden dunkel und schmierig, und plötzlich sehne ich mich nach Rundholzwänden und Häusern mit schrägem Dach und Bodenkammer und Birken vor den Fenstern und nach einer Wiese, wo der Wind und der Regen in einer einzigen langen Dünung über das hohe Gras fegen und dich an Filme denken lassen, die du gesehen hast, und daran, dass du gleichzeitig barfuß läufst, und dann geht es vorbei, zwängt sich in einen Trichter mit nur einem schmalen Weg hinaus.“ (a.a.O., S. 77)

Per Petterson ist ein Meister der subtilen und umso intensiveren Schilderung von Emotionen und zeigt sein ganzes literarisches Können auch in diesem, von Ina Kronenberger ins Deutsche übertragenen Roman: er ist in der Lage, große Gefühle ohne jede Sentimentalität in Worte zu fassen, die ihre ganz eigene Poesie entfalten.
Mit „Ist schon in Ordnung“ steigt er tief in die Gedanken- und Gefühlswelt des 18jährigen Audun ein, der aus einer durch den alkoholkranken, gewalttätigen Vater und die gleichgültige, hilflose Mutter zerstörten Familie stammt, aus schlechten Verhältnissen, wie man damals sicher sagte und es auch heute noch oft sagen hört. Audun, schwer traumatisiert durch seine Kindheit, hat gelernt, seine Verletzungen zu verbergen und sich selbst hinter einem Panzer aus scheinbar gleichgültiger Gelassenheit zu verbergen. Doch schnell merkt der Leser, dass es unter diesem Panzer brodelt und Audun keinen leichten Weg vor sich hat, auch wenn er in Arvid den einen Freund findet, den er braucht, um innerlich nicht zu verarmen.

„[…] Arvid an der Tür, ich bin auf dem Weg nach draußen, und er will mir etwas Wichtiges sagen, er fuchtelt mit den Armen, aber wir haben zuviel getrunken, es rauscht in meinen Ohren, und ich kann nicht hören, was er sagt. Im Wohnzimmer leuchtet Licht, er ist allein, seine Schwester und seine Eltern sind mit der Nachtfähre nach Dänemark gefahren. Dunkel steht er da, mitten im Licht und ist der beste Kumpel, den ich je hatte, und es macht nichts, dass ich nicht hören kann, was er sagt.“ (a.a.O., S. 46)

Dennoch und mit allen emotionalen Handicaps nimmt er die Klippen der Pubertät, erlebt das erste Verliebtsein, macht eigene Erfahrungen mit dem Alkohol und der rohen Gewalt vor dem Hintergrund seines Daseins als Fabrikarbeiter auf der untersten gesellschaftlichen Stufe in einer Zeit der jugendlichen Rebellion. Bei allem inneren und äußeren Unbill, dem er sich ausgesetzt sieht, zieht er immer noch und immer wieder Kraft aus der Literatur, glaubt trotzig an die Möglichkeit, eines Tages Schriftsteller werden zu können – und beginnt seinen eigenen Weg zu gehen.
Pettersons Roman ist nicht nur ein Roman über das Erwachsenwerden in schwierigen, ja zerrütteten Familienverhältnissen in einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs und der Unsicherheit, sondern zugleich ein Buch über Freundschaft und die Kraft der Literatur. Der Autor hat seinen Protagonisten mit der Welt der Bücher und Geschichten verbunden und gibt ihm so zugleich die Kraft und Inspiration, seinem Unglück und den rauhen Umständen seines Alltags zum Trotz einen eigenen und möglicherweise glückhaften Weg hinaus ins Leben zu suchen. Petterson malt Auduns Geschichte dabei vor dem grauen, tristen Hintergrund einer norwegischen Vorstadt in den 1970er Jahren aus: knapp, fast sachlich in der Sprache, gelang ihm mit diesem Roman ein melancholisches Buch von großer, zwischen den Zeilen leuchtender Poesie, ein literarischer Roadmovie, der den Leser, die Leserin bewegt und einen am Ende mit einer vagen Hoffnung auf Glück für den Protagonisten nicht unversehrt zurücklässt. Dabei schafft er, während er plastisch in die Atmosphäre der 1970er Jahre eintaucht und in die inneren Wirren des Erwachsenwerdens unter schweren Bedingungen, Bilder von eindringlicher sprachlicher Schönheit:

„Die Straße schlängelt sich durch die Landschaft, bergauf, bergab, und es wird niemals langweilig. Ich halte das Tempo hoch, so hoch, wie ich mich nur traue, drücke das Gaspedal durch, wenn es geradeaus geht, und schalte vor den Kurven herunter, versuche den Punkt zu finden, kurz bevor der Opel ausbricht und die Bodenhaftung verliert, ohne mit einem Auto, das mir nicht gehört, unnötige Risiken einzugehen. Die Telefonmasten ticken vorbei, und ich spüre den Drang im Körper, der neu ist und meinen Kopf betäubt, und ich würde am liebsten Jimi Hendrix hören; Crosstown Traffic oder Purple Haze. Arvid sitzt da mit wehenden haaren und starrt vor sich hin, dann holt er sein Tabakpäkchen heraus und dreht uns zwei Zigaretten, zündet beide mit dem Zigarettenzünder an und steckt mir eine in den Mund.
‚Hier ist es irre schön‘, sagt er, ‚hier war ich noch nie. Kommst du von hier?‘
‚Nicht ganz.‘
Nicht ganz, aber sehr weit weg ist es auch nicht. Ich dachte, ich hätte es vergessen, wie es hier aussieht, aber ich habe gar nichts vergessen.“
(a.a.O., S. 60)

Für alle, die skandinavische respektive norwegische Literatur lieben und alle, die sie entdecken möchten, gleichmaßen sehr empfohlen. Aber Vorsicht: die dadurch unter Umständen entwickelnden Vorlieben können zu ungeahntem Verlangen nach mehr führen.

15 Kommentare zu “Ist schon in Ordnung / Per Petterson

  1. Pingback: Belletristik-Rezension: Per Pettersons „Ist schon in Ordnung“ ist eine melancholische Freundschaftsgeschichte | PetitSalon

  2. Ich kann mich nur anschließen. Ich hab bisher nur ein Buch von Peter Petterson gelesen und deine Rezension hat in mir sofort Lust auf mehr entfacht. Werden nachher mal bei meiner Bücherei-App vorbeischauen 😉 liebe Grüße, Mareike

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    • Sofern wir die gleiche Bücherei meinen: die haben es. Würde mich auch schwer enttäuschen bei meiner Heimatstadt.
      Viel Spaß beim Lesen und liebe Grüsse von
      Jarg

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      • Bin mir nicht sicher – meine regionale Bücherrei ist an das OnLeihe-System angeschlossen. Aber sie haben es auch. Bzw. jetzt erstmal für die nächsten zwei Wochen nicht mehr 🙂

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      • Wenn es eine Großstadtbibliothek mit etliche Zweigstellen an der Elbe Auen ist, dann könnte es schon die gleiche sein, denn die waren mit die ersten mit der OnLeihe 😉 Viel Spaß damit!!

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  3. Danke für diese tolle Rezension, die eine sehr gefährliche Nebenwirkung hat beim Lesen: den Wunsch, das Buch schnellstmöglichst zu kaufen! Ich freue mich sehr darauf diesen spannenden Autor noch näher kennenzulernen und werde hoffentlich bald ein Buch von ihm in die Hand nehmen (lägen hier doch bloß nicht noch all die anderen Bücher die gelesen werden wollen). 😉

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    • Keine Ursache, gern geschehen. Die starken Nebenwirkungen von guten Bücherblogrezensionen kenne ich ja auch … unter anderem auch von deinem Blog 😉
      Per Petterson ist wirklich bemerkenswert – „Pferde stehlen“ ist als Einstieg auch nicht schlecht.
      Herzlich grüsst
      Jarg

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    • Danke für die freundlichen Worte. Ich kenne das mit den ungelesenen Büchern, die man gerne lesen möchte – und dann kommen einem andere ungelesene Bücher in die Quere. Und es hört nie auf … 😉

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