
Wenn alle das Gleiche sagen, bekommt man Lust dagegenzuhalten. Dann sagt man sich: Alle sind sich einig, hey, da stimmt doch was nicht.
Nicht wenige, die eine aktuelle Ausgabe von TAGESSPIEGEL oder ZEIT MAGAZIN aufschlagen, blättern zuerst zur Kolumne von Harald Martenstein. Zu Recht. Denn Martenstein gehört derzeit nicht nur zu den vergnüglichsten Journalisten, sondern auch zu jenen, die mit besonders spitzer Feder schreiben, kluge Fragen stellen, allzu selbstgewisse Meinungen gerne provokant den argumenativen Boden unter den Füßen wegziehen und im Zweifel auch mal für die Meinungsfreiheit jener Partei ergreifen, deren Meinung man selbst auf gar keinen Fall teilen mag. Seine (m. E. berechtigte) Kritik an der allgegenwärtigen Gender“forschung“ hat in diesem Jahr für einigen Wirbel in einschlägigen Kreisen gesorgt – wie schon mancher Beitrag von ihm vorher.
„Romantische Nächte im Zoo“ versammelt Reportagen und Kolumnen aus den Jahren 1999 bis 2012 und umfassen ein breites Spektrum. Martenstein berichtet in unnachahmlich köstlicher Weise von einem von ihm besuchten Seminar zum positiven Denken, vom ökumenischen Kirchentag in Potsdam und den Zusammenhang zum Bratwurstverkauf, von der Tugendrepublik Deutschland in Zeiten von Antirauchergesetzen und Facebooks totaler Offenheit. Er beschäftigt sich mit dem deutschen Humor und seinen zeitgeistigen Wandlungen von Karl Valentin über Otto Waalkes bis zum modernen ‚Comedian‘ von heute, unterzieht den eigentlich von ihm auch geschätzten „Kleinen Prinzen“ von Saint Exupery einer genaueren – und ziemlich vernichtenden – Betrachtung.
Vernichtend fällt sein Urteil über die Bauhaus-Architektur nach zwei Nächten im Schlemmer-Haus in Dessau aus, beängstigend seine Analyse über die öffentliche Meinung und den Mainstream. Ihm gelingen differenzierte Porträts von Menschen Erwin Teufel oder Rudi Carrell.
Hat man beim vorhergehenden Beitrag über die aussterbende Spezies des „Kurschattens“ noch herzlich gelacht, bleibt einem selbiges bei „Anna“, einer Geschichte über eine unter falschen Voraussetzungen nach Deeutschland gelockte und hier als Zwangsprostituierte mißbrauchte Ukrainerin im Halse stecken: hier zeigt Martenstein seine ganze Stärke, setzt er gegen die nüchterne Reportage doch das einfühlsame Porträt und macht so das Schicksal und die Gefühlswelt einer Betroffenenen bedrückend spürbar. Gleiches gilt für seine Reportage über eine Mutter, die ihre Kinder so stark vernachlässigt, dass sie sterben: Martenstein beobachtet genau und sieht – anders als der nach Todesstrafe lechzende Mainstream – mehr Verantwortliche als nur die zu Recht Angeklagte.
„Romantische Nächte im Zoo“ ist eine schön zusammengestellte und sehr empfehlenswerte Sammlung von journalistischen Preziosen Martensteins und ein wahres intellektuelles Vergnügen, das zudem unserem seltsamen Land eindrucksvoll den Spiegel vorhält.
Herzlichen Dank, Jarg, für diesen Hinweis und die feine Besprechung!
Wir lesen ihn gerne im ZEIT-Magazin. Das Buch kennen wir (noch) nicht.
Herzliche Grüße, mb und dm
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Gern geschehen. „Der Titel ist die halbe Miete“ lohnt sich übrigens auch.
Liebe Grüsse von Jarg
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Martenstein ist in der Tat meine erste Lese-Anlaufstelle im Zeit-Magazin. Eigentlich ist es erschreckend, dass es nur noch wenige klar Position beziehende, scharfzüngige Journalisten wie ihn gibt. Der Mainstream (selbst beim Spiegel bereits angelandet) wabert wie eine zähe, klebrige Lehmschicht durch die Gazetten, die immer selben Meinungen widerkäuend.
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Das macht Martenstein so sympathisch – er äugt genau hin und löckt auch mal wieder den (Mainstream)Stachel.
Da ich mich sowieso abseits vom Tagesjournalismus bewege, halte ich mir die täglichen Aufregereien immer gerne vom Leib. Zum Glück findet man guten Journalismus noch, auch wenn man suchen muss und – etwa beim Fernsehen – eher im Spätprogramm landet.
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Lieber Jarg,
ich danke dir für diese schöne Vorstellung. 🙂 ich kannte Harald Martenstein zwar, habe seine Kolumnen aber eher immer überblättert – nun werde ich auf jeden Fall mal einen Blick ins ZEIT Magazin und in dieses Buch werfen.
Liebe Grüße
Mara
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Liebe Mara,
gern geschehen. Der ist die Lektüre wert. Pointiert, scharfsinnig, witzig und manchmal böse …
Liebe Grüsse von
Jarg
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Solche Bücher sind so wichtig!
Danke für den Kommentar, mick.
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Gern geschehen!
Liebe Grüsse von
Jarg
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