„Wie soll man erklären, wie schön es ist, wenn die Sonne zwischen den Wolken durchkommt und alles golden wird um einen herum? Wenn die Presseisrücken wie Scherenschnitte aussehen. Wenn auf einmal drei Sonnen am Himmel stehen. Wie erklärt man, dass man tatsächlich geweint hat, nach fünf Tagen im Eis, und auf einmal stand das eine Bärin mit zwei Jungen, und die Jungen spielten mit einer Robbenhaut, sprangen von Scholle zu Scholle und führten ein unwirklich scheinendes Theater auf? Wie erklärt man das tiefe Gefühl der Dankbarkeit für Momente wie diese? Wie erklärt man, dass man sich reich beschenkt fühlt, wenn das Wetter genau für den Zeitraum der Landung auf einer Insel hält, wenn man im Sonnenlicht auf einem Gletscher sitzen kann und alles, alles so wunderschön ist?“ (S. 170)
Reisen in die Welt der Polregionen sind heute mit einem kalkulierbareren Risiko verbunden als noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Dennoch bleiben es extreme Landschaften, die den Menschen nicht brauchen, ja ihm deutlich macht, das er dort nicht eigentlich hingehört – und doch von einer faszinierenden Schönheit sind, die schnell in den Bann ziehen kann und einen sogar die Anstrengungen und Einschränkungen in Kauf nehmen lässt, die trotz aller technischen Hilfsmittel mit Reisen in die Polregionen verbunden sind.
„Wer die Qualen nicht kennt, der kennt auch die Freude nicht. So wie wir uns zwischen den Polen der Erde bewegen, bewegen wir uns zwischen den Polen des Lebens. Wer die Fähigkeit besitzt, Menschen, Landschaften und die ganze Welt, die uns umgibt, nicht nur zu sehen, sondern noch mehr zu erfühlen, wer fähig ist, jede Pore des Körpers mit Freude, mit jubelndem Glück anzufüllen – dem wird sich irgendwann auch jede dieser Poren mit einem schreienden Schmerz füllen. Das eine ohne das andere – gibt es nicht“ (S. 174)
Die Journalistin Birgit Lutz fährt 2007 das erste Mal mit dem russischen Eisbrecher Yamal an den Nordpol und ist sofort gebannt von der Schönheit und den Extremen der Region. In der Folge bereist sie wiederholt die Region, begegnet den rauh wirkenden, wortkargen Menschen, die sich mit Eisbrechern oder Hubschraubern dorthin bewegen, auf temporären oder dauerhaft eingerichteten Stationen arbeiten oder gar per Kajak oder zu Fuss eine der unwirtlichsten Bereiche des Planeten erkunden und dabei an ihre eigenen Grenzen geraten. Schnell ist sie fasziniert und kann es fortan – oft zum Unverständnis ihres Umfeldes – nicht lassen, in die Arktis zu reisen, hält bald Vorträge auf Eismeer-Expeditionsschiffen und macht sich schliesslich sogar mit zwei erfahrenen Arktisreisenden zu Fuß auf den gefährlichen Weg über das Eis zum Pol.
„Der Mensch besiedelt die Landschaften der Welt mit seinen Sehnsüchten, schreibt ihnen Stimmungen und Bedeutungen zu. Macht sich so sein eigenes Bild von der Welt. Das einfache Abbild eines hohen Bergs kann tausenderlei Assoziationen hervorrufen, die nicht aus der puren Existenz des Berges resultieren. Sondern aus den Eigenschaften und Stimmungen, die unsere Kultur der Bergwelt zuschreibt, vermischt mit eigenen Erlebnissen“ (S. 115)
In „Unterwegs mit wilden Kerlen“ beschreibt sie nicht nur die auf den ersten Blick wortkargen Männer, die auf Expeditionsschiffen, auf Eisstationen, in Spitzbergen arbeiten oder die robusten russischen Hubschrauber fliegen, mit denen Mensch und Ausrüstung in unwirtlichste Gegenden gebracht wird. Sie setzt auch die moderne, immer wieder an ihre Grenzen geratene und doch heute unverzichtbare Technik immer wieder ins Verhältnis zu den Reisen der Arktispioniere, deren mit hohen Entbehrungen, nicht selten gar dem Tod erkauften Leistungen dadurch nochmal in einem anderen Licht erscheinen.
„Wer kann denn jetzt von hier weggehen? Diese ganzen Geschichten von den alten Expeditionen, von den Entdeckern des 19. Jahrhunderts, hier haben sie gespielt. In diesem Eis, in diesem Licht. In diesen Stunden öffnet sich für mich eine vollkommen neue Welt. Ich verstehe, dass die Pioniere immer wieder neu aufbrechen mussten, es immer und immer und immer wieder versuchen mussten. Hinaufzukommen zum Pol. Weil man wissen muss, wie es weitergeht, was dort noch kommt, was dort noch ist. Es zieht einen hinein in dieses Eis.“ (S. 17)
„Wer im arktischen Eis immer nur die kalte Wüste sieht, dem wird sich diese Welt nie öffnen. Für alle anderen wird die Kargheit der arktischen Landschaft bei Weitem wettgemacht, durch all die Geschichten, die der Mensch schon in sie hineingeschrieben hat. Und durch all die tapferen, zähen Lebewesen, egal ob Tiere oder Pflanzen, die sich an diese harte Welt angepasst haben.“ (S. 9)
Man mag den Untertitel „Eine Frau erobert die Arktis“ für ein wenig klotzig halten. Doch hat man das Buch von Birgit Lutz gelesen, relativiert sich das rasch, hat sich die Autorin doch von ihrer zum Teil aus Zufall geborenen Leidenschaft für die Arktis anstecken lassen, nicht nur viele Reisen in die Arktis zu unternehmen und letztlich auch einen Fußmarsch zum Pol: Lutz beschäftigt sich auch stark mit der Faszination, die diese menschenfeindliche Landschaft auf sie und andere Menschen ausübt – und sie gibt die Faszination an ihre Leser weiter in ihrem geschickt aufgebauten Buch, dass den Bericht über die Polwanderung abwechselnd verschränkt mit Reportagen von Spitzbergen, von den Eisbrechern und Forschungsstationen.
„Das Eismeer, seine Schönheit, die Farbenspiele in der Polregion, das blaue Licht des kommenden Polartages – all das ist für kaum jemanden direkt erlebbar. Es wäre das Schlimmste, wenn deswegen Arktis und Antarktis als unfreundliche, unnütze, tote, leere Eiswüsten gelten würden. Es sind Menschen nötig, die diese Regionen lieben, um sie zu bewahren, die Gefühle in ihnen ansiedeln. Und dafür brauchen wir Bilder, und wir brauchen Erzählungen. Wir brauchen die Erklärungen, wie alles mit allem zusammenhängt.“ Der Mensch ist egoistisch. Er bewahrt nur, was er kennt, was er schön findet, was er liebt. (S. 116)
Pingback: Buchempfehlung: “Unterwegs mit wilden Kerlen” von Birgit Lutz | immer existent
Das passt ja wunderbar zu dem Buch, das ich gerade ausgelesen habe: „Wie August Petermann den Nordpol erfand“! Werde ich mir gleich als Anschlusslektüre besorgen – danke für den Tipp.
LikeLike
Hallo Petra,
klasse, gern geschehen. Und ich habe den nächsten Buchtipp. Danke! Ich liebe (Bücher)bloggen … 😉
Herzlich grüsst
Jarg
LikeLike
Lieber Jarg,
im vorletzten Absatz nennst Du die Autorin irrtümlich „Klotz“, wohl inspiriert durch das entsprechende Adjektiv kurz zuvor.
Schöne Besprechung eines besonderen Buches!
Viele Grüße Norman
LikeLike
Lieber Norman,
oh, danke für den Hinweis. Ist korrigiert und der Schlussredakteur gefeuert (war ja noch in der Probezeit). Man kriegt einfach kein gutes Blogpersonal mehr 😉
Herzlich grüsst
Jarg
LikeLike