Das gilt doch für die meisten von uns; unser Leben zu vergessen ist das Beste, was wir zustande bringen. (S. 140)
In Knockemstiff entführt uns der amerikanische Autor Donald Ray Pollock, selbst aus einer unterprivilegierten Familie kommend, in die archaische Welt eines Provinzörtchens in Ohio. Dort begegnen wir Menschen, die auf der anderen Seite des amerikanischen Traums leben, zerrissen zwischen aussichtlosen Träumen und einer deprimierenden, nicht selten von Alkohol, Drogen und Gewalt geprägten Gegenwart, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint.
Es ist der American White Trash, dem Pollock in diesen zwischenzeilign miteinander verschränkten Kurzgeschichten ein Gesicht gibt: da flieht einer nur mit dem Taschenmesser vor dem Militär in den Wald – und die Solfdaten, die ihn verfolgen, kehren nicht zurück. Der junge Daniel flieht aus seinem niederdrückenden Zuhause und gerät an einen zunächst freundlich erscheinenden, tatsächlich aber schwer gestörten Lastwagenfahrer. Der zurückhaltende Schwule Todd, der ein Auto und ein paar tausend Dollar geerbt hat, zieht mit Frankie in eine heruntergekommene Hütte – und lernt bald brutal die andere Seite seines Kumpels kennen.
Solche und andere Geschichten versteht Pollock meisterhaft zu erzählen und schafft es dabei, bei aller sozialen Deprivation seiner Protagonisten, ihrer emotionalen Verwahrlosung und ihrem physischen Niedergang zwischen Prügeleien, Saufen, Sex, Verbrechen und Gewalt manchmal kurz innezuhalten in seinen lakonischen, ironisch und mit schwarzem Humor gewürzten Schilderungen: das ist jener Moment, wo wir einen Blick in die verletzten Seelen werfen können, in denen ein verschüttteter Rest menschlicher Würde zu entdecken ist. Unwillkürlich entsteht ein kurzer Augenblick der Nähe zwischen Leser und Protagonist, bis der Fortgang der Geschichte diese lllusion zerstreut und wir den „Helden“ wieder seinem unerbittlichen Schicksal ausgeliefert sehen, so grotesk, absurd und bizarr es auch sein mag.
Donald Ray Pollocks Buch mag eine kalten Herzens geschriebene wütende Abrechnung sein mit seinem gleichnamigen Heimatstädtchen und es ist ganz sicher auch eine Abrechnung mit dem sich überlegen fühlenden „White American“, der längst selbst auf den Hund gekommen ist und den von ihm propagierten Stolz der sogenannten „Weissen Rasse“ in einem von sinnloser Gewalt und hirnvernebelten Exzessen geprägten Leben ad absurdum führt. Zugleich ist aber zwischen den nüchtern erzählenden Zeilen verhalten eine tiefe Trauer und Resignation zu spüren über diese verloren erscheinenden, kaputten Leben, deren Schicksal er kunstvoll in seinen Geschichten miteinander verknüpft.
„Schneeflocken wehten durch die Spalten herein und wirbelten über mir. Ich griff nach unten und hob den winzigen Schädel eines armen kleinen Vogels auf. Ich hielt ihn lange in der Hand. Es schien, als läge alles darin, was ich je in meinem Leben getan hatte, das Gute wie das Schlechte. Dann schob ich ihn in den Mund, dünn und zerbrechlich wie ein Ei.“ (S. 143)
Wenn man weiß, dass Pollock selbst bis Anfang fünfzig in jener im Buch erwähnten Papierfabrik in Knockemstiff gearbeitet hat und erst danach zum Schriftsteller wurde, ahnt man etwas von der ungeheuren Kraft, die nötig ist, um sich aus solchen sozialen Zusammenhängen zu befreien. Ein verstörendes, bedrückendes Buch, das keinen Trost bietet und dem Leser, so er sich öffnet, intensiv unter die Haut geht.
Danke an Caterina Seneva für den Buchtipp. An dieser Stelle sei auch auf ihre hervorragende Rezension des Buches verwiesen.
Lieber Jarg,
oh ja, ein Werk mit einer ungeheuren Wucht, auch für mich ist es eines der Highlights des Jahres. Handwerk des Teufels steht nun bereits auf meiner Leseliste, ebenso wie weitere Bücher von Woodrell und Sallis. Diese literarischen Noirs sind wahnsinnig faszinierend, obwohl – oder gerade weil – sie so düster sind. Auf deine Rezension zum Handwerk bin ich schon gespannt.
Liebe Grüße,
caterina
PS: Merci für die lieben Worte und die Verlinkung.
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Liebe Caterina,
die Rezension wird noch im Januar 2014 erscheinen. Ja, „Noir“ lässt mich nicht so schnell los.
Liebe Grüsse von
Jarg
… und PS: gern geschehen!
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Knockemstiff und ebenso das Handwerk des Teufels, beide beim Liebeskind Verlag erschienen, waren für mich zwei der beeindruckendsten Bücher im vergangenen Jahr – wie du auch schreibst: verstörend, düster.
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Pollock vermag beeindruckend zu schreiben, so bedrueckend die Geschichten auch sind. „Das Handwerk des Teufels“ (Rezension in Kürze) hat mich ebenfalls gefesselt.
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