Als der letzte Ton verklungen ist, dreht sie sich fragend um. Martha hält ihr das Notenheft hin. Eine komplette Seite ist übersät mit Linien, Rechtecken und Quadraten. An manchen Stellen finden sich Dreiecke, an anderen Kreise. Wissen Sie, was das ist? fragt Fräulein Grunow. Das, was es immer ist. Eine Zeichnung, ein Abbild von dem, was ich höre und sehe. Gertrud Grunow nickt. Richtig. Aber gleichzeitig stellt es noch etwas anderes dar. Einen Entwurf, einen Plan, eine Anweisung. Eine Anweisung? Wofür? Für Ihren Körper! Sie haben doch einen Körper, oder etwa nicht?
Thomas Wetzlaff reist im Jahr 2001 nach New York, um bei der Versteigerung des Notizbuches seiner Urgroßmutter Martha dabei sein zu können: in dem unscheinbaren Notenheft sind unter anderem Notizen und Zeichnungen berühmter Künstler enthalten, die alle in Verbindung mit dem Bauhaus stehen. Die im Jahr 1900 geborene Martha ist am Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht verschollen. Thomas versucht, anhand ihres Notizbuches und erhaltener Briefe ihr Leben zu rekonstruieren: Martha, die über eine besondere Wahrnehmung verfügt, wächst in einem weltgewandten Musikerhaushalt auf und folgt dem Rat eines Freundes ihres Vaters: ohne jegliche künstlerische Erfahrung bewirbt sie sich unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg mit der Empfehlung eben dieses Freundes am Bauhaus, wird angenommen und lernt Walter Gropius, Paul Klee, Johannes Itten, Kandinsky, Oskar Schlemmer und all die anderen kennen, die die Frühgeschichte des Bauhauses in Weimar prägen. Endlich findet sie nach einigen Umwegen ihre Bestimmung im Tanz. Immer dabei: ihre Kladde, ein Notenheft, in dem sie Tagebuch führt und in das Bauhaus-Künstler Notizen eintragen und zeichnen.
Doch das Bauhaus und mit ihm die Moderne in Kunst, Kultur und Architektur, für die es steht, geraten von Anfang an in Bedrängnis. Die Offenheit, für die es steht, ist den rechten Kräften ein Dorn im Auge. Als das Bauhaus in Weimar schliesst, um nach Dessau umzuziehen, kehrt Martha in ihre pommersche Heimatstadt Türnow zurück – mit ihrem Notizbuch und einem Kind. Doch auch im beschaulichen Türnow gewinnen rechtsextreme Kräfte an Zulauf und Macht …
Eingebettet in die Lebensgeschichte seiner fiktiven Protagonistin Martha, entfaltet Tom Saller ein Panorama der Gesellschafts- und Kulturgeschichte der 1920er Jahre: geschickt verknüpft er die Erzählung um Martha, die in Weimar am Bauhaus ihr künstlerisches Talent im Tanz entdeckt und die Freiheiten der neuen Bewegung bald zu schätzen weiß, mit dem Bauhaus selbst und lässt seine revolutionäre Kultur, aber auch seine bekanntesten Protagonisten im Spiegel von Marthas Geschichte lebendig werden. Neben dem individuellen Schicksal von Martha, das aus dem Aufbruch der 1920er Jahre und einer neuen Bewegung in die bleierne Düsternis der 1930er Jahre und die Schrecken des Krieges führt, scheint zugleich die bis heute kaum zu unterschätzende gesellschaftliche und künstlerische Bedeutung des Bauhauses auf, das in Kontrast zur Gegenströmung, den rechten Tendenzen der Zeit gesetzt wird.
Ein bemerkenswert gut komponierter Roman, der sich dem Bauhaus, das dieses Jahr das 100. Jubiläum seiner Gründung feiert, auf literarische Weise nähert und dabei ein ebenso berührendes und anregendes wie intensives und fesselndes Lektüreerlebnis bietet. Atmosphärisch dicht, sprachlich ansprechend und mit großer Sympathie für seine Hauptfigur erzählt, mag man das Buch kaum aus der Hand legen.