Mia lebt in der Vorstadt. Alles, was sie besitzt, ist ein Bilderbuch. Ihre Eltern sind oft weg, und so ist sie oft allein in ihrem Zimmer im dunklen Keller, in dem sie die Schritte vorbeigehender Menschen hören kann. Wieder und wieder liest Mia in ihrem zerfledderten Bilderbuch von dem großen, weissen Bären, der ein kleines Mädchen besucht und ihr den schönsten Tag ihres Lebens schenkt. Als es immer später, draussen immer leiser wird und ihre Eltern immer noch nicht kommen, vertieft sich Mia erneut in das Bilderbuch und beginnt von vorne, dort, wo der große, weisse., starke Bär das Mädchen in seine Arme schliesst. Plötzlich steht er neben ihr, der Bär. Mia freut sich, möchte mit ihm spielen den ganzen Tag lang – und hat doch eine einzige, große Bitte: sie möchte ihren Vater und ihre Mutter sehen. Auf dem Rücken des Bären reist zu nun gut beschützt und warm durch die kalte dunkle Stadt, sorglos und frei ihren Eltern entgegen, die einmal nur für sie da sind.
Mit großer Empathie und Zärtlichkeit wird hier die Geschichte eines einsamen Mädchens erzählt, die ganz offensichtlich in eher elenden Verhältnissen aufwächst mit einer Mutter, die Kellnerin ist, und einem dem Alkohol zugeneigten Vater, der sich als Straßenverkäufer durchschlägt. Das Mädchen findet Trost im einzigen Gegenstand, den sie besitzt, einem Bilderbuch über einen großen, starken Bären: mit Hilfe des Buches und des aus ihm erwachten weissen Bären geht sie auf eine fantastische, traumartige Reise, in der ihre Welt sich verwandelt, ihre Eltern ihr nah sind und sie glücklich sein kann. So verwandelt Beong-gi Bae mit literarischen Mitteln die offensichtliche Armut des Mädchens und ihre Einsamkeit in einen Traum voller Wärme und Licht – und lässt doch den Leser am Ende nicht darüber im Unklaren, dass Mia auch weiterhin unter elende Bedingungen leben muss und das Buch, der Traum, die Reise vom Bären ein kraftvoller Trost sind, nicht mehr.
Für die thematisch anspruchsvolle, gut erzählte und ebenso gut übersetzte Geschichte des südkoreanischen Autors Beong-gi Bae findet der gleichsfalls südkoreanische Maler und Bilderbuchkünstler Seung-min Oh eindrucksvolle, im besten Sinne eigenwillige Bilder. „Mias Traumbär“ beschönigt nichts und tröstet dennoch: ein Buch aus dem an dieser Stelle derzeit häufiger erwähnten Aracari-Verlag über Armut und Elend sowie zugleich über die Kraft der Träume und der Fantasie, die auch in der Dunkelheit fortwirken, Wärme, Trost und Hoffnung bieten können.
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Jetzt habe ich soeben bei der Klappentexterin die Rezension gelesen und jetzt stosse ich auch bei dir auf dieses schöne Bilderbuch. Es ist schon traurig, wenn bereits Kinder einsam aufwachsen.
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Interessant, ich glaube ich habe noch nie ein koreanisches Bilderbuch gelesen. Bilde ich mir das nur ein, oder werden doch häufiger europäische oder Nordamerikanische Bücher übersetzt? Mehr noch als auf dem Markt für Erwachsene? Was meinst Du, Du hast da doch einen guten Überblick?
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Oh, schwer zu sagen. Ich fische mir ja immer nebenbei die „Creme“ raus aus den Bilderbüchern, die mir oder meiner Frau beruflich begegnen. Mein Lektorat in der Bib liegt letztlich bei Sachbüchern, Musik und Filmen, so dass ich grundsätzlichere Aussagen zum Kinderbuchbereich eigentlich nicht wirklich treffen mag, Musik und Filmen. Ganz sicher ist auch der Bilderbuchmarkt internationaler geworden … was aber auch bedeutet, dass mehr Bilderbücher aus Asien erscheinen. Herausragend sind die dann oft, wenn sie sich örtlicher künstlerischer Traditionen und Stile bedienen und trotzdem eine allgemeingültige Geschichte erzählen wie etwa „Zwölf und der Wolf“ (https://jargsblog.wordpress.com/2012/03/01/zwolf-und-der-wolf-in-seon-chae-seung-ha-rew/) oder die Welle von Suzy Lee (https://jargsblog.wordpress.com/2010/02/19/lee-suzy-die-welle/).
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