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Vatermord und andere Familienvergnügen : Roman / Steve Toltz

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„Dad behauptete immer, dass die Menschen im Leben gar nicht auf Entdeckungsreise gingen, gar keine Entwicklung durchmachten, sondern die ganze Zeit damit verbrachten, Beweise für Überzeugungen zusammenzutragen, die sie ohnehin von Anfang an hegten. Sicher, sie gewinnen neue Erkenntnisse, aber die erschüttern ihr innerstes Glaubensgefüge nicht wirklich – sie bauen nur darauf auf. Er war der Ansicht, wenn die Basis unversehrt bleibt, ist es völlig egal, was man darauf aufbaut – eine Entwicklung sei es nicht, lediglich ein Aufeinanderschichten. Er glaubte nicht, dass jemals jemand bei null anfing. ‚Die Menschen suchen nicht nach Antworten‘, sagte er oft, ’sie suchen nur nach Beweisen dafür, dass sie recht haben'“ (S. 781-782).

Der junge Australier Jasper Dean sitzt in einem Provinzkaff eine Gefängnisstrafe ab – kurioserweise just in dem Gefängnis, das einst sein Großvater gebaut hat. Genervt von der Enge und Langeweile, ausgesetzt seinen Erinnerungen, beginnt er die bizarre Geschichte seiner Familie zu erzählen und setzt den Fokus zunächst auf seinen Vater Martin, einen philosophierenden Moralisten, der als Kind vier Jahre im Koma lag und später trotz großer, stets scheiternder Ambitionen, der Menschheit Gutes zu tun, vom Ruhm seines kriminellen Stiefbruders Terry ausgebremst und zu Australiens meist gehasstem Mann wird. Als alleinerziehender Vater setzt er Jasper, dessen Mutter früh unter zunächst nicht näher erläuterten Umständen stirbt, einer bizarren Erziehung aus mit Stationen in der australischen Wildnis, in Thailand, Paris, einer Tour de force durch Stripclubs, Psychiatrien, Spelunken. Stets ist Martin getrieben von merkwürdigen, immer scheiternden geschäftlichen Projekten. Schliesslich, nachdem sein Versuch, alle Australier reich zu machen, gigantisch schief geht, flieht er mit seinem Sohn ausser Landes, während der kriminelle Terry weiterhin in hohem Ansehen steht … und der erwachsenwerdende Jasper zwischen alle Fronten gerät.
Steve Toltz (* 1972) ist mit „Vatermord und andere Familienvergnügen“ (der im Original treffender „A Fraction of the Whole“ heisst) eine modernde Odyssee gelungen, ein Roman, randvoll mit Komik, Tragik und beissendem Spott („Es ist normal Entsetzen vor der Existenz zu empfinden, wenn man vier Dollars für einen Kaffee zahlen muss“, S. 281).
Getragen wird dieses fesselnde literarische Monstrum von einem aberwitzig gewölbten und dennoch solide den Leser in Bann haltenden Spannungsbogen, angereichert mit einer klugen Mischung politischen, kulturgeschichtlichen und philosophischen Mörtels. Die Perspektiven des Romans wechseln auf geschickte Art und Weise und setzen sich im Kopf des Lesers zu einem fragmentarischen Bild von drei Generationen der exzentrischen Familie Dean zusammen. Mit großer Empathie skizziert Toltz seine Protagonisten und baut sorgfältig Martin und Terry Dean als Antagonisten, als extreme Gegensätze aus, zwischen deren Extremen (Moral und Gesetzlosigkeit) Jasper seinen Weg finden muss.
Dabei ist der Leser aufgrund der unvermuteten Hintergründigkeit und Tiefe des Romans geneigt, sich Seitenzahlen zu notieren für wundervolle Zitate wie dieses:

„Wenn jemand die tiefsten Tiefen erreicht, in die ein Mensch hinabsinken kann, nennen wir ihn ein Monster, bezeichnen ihn als Teufel oder die Verkörperung des Bösen, aber nie käme jemand ernsthaft auf die Idee oder auch nur die Vermutung, dass diesem Individuum tatsächlich etwas Übernatürliches anhaften könnte. Er mag ein böser Mensch sein, aber er ist einfach ein Mensch. Wenn aber ein außergewöhnlicher Mensch auftritt, der auf der entgegengesetzten Seite der Werteskala agiert, der Gutes tut wie Jesus oder Buddha, erheben wir ihn gleich zum Gott, zur Gottheit, zu etwas Göttlichem und Übernatürlichen. Dies spiegelt wieder, wie wir selbst uns sehen. Es fällt uns nicht schwer zu glauben, dass noch die abscheulichste Kreatur ein Mensch ist, aber wir können uns absolut nicht vorstellen, dass ein vorbildliches Geschöpf, das versucht, in uns Vorstellungskraft, Kreativität und Mitgefühl zu wecken, einer von uns sein kann. So hoch ist unsere Meinung von uns selbst einfach nicht, aber so schäbig schon“ (S. 785-786).

Toltz ist nicht nur ein aberwitzige, tragikomische Familiengeschichte gelungen, sondern eine Geschichte, die über den klassischen Familienroman hinausragt, Er bricht eine Lanze für das Zweifeln, das Hinterfragen und die nicht ausgeschöpften menschlichen Potentiale und lässt dabei einen tiefen Skeptizismus gegenüber Ideologien und Religionen durchscheinen.
„Menschen sind auf der Welt einzigartig, weil sie im Gegensatz zu allen anderen Tieren ein so hoch entwickeltes Bewußtsein haben, dass dabei ein scheußliches Nebenprodukt abfällt: Sie sind unter allen geschöpfen das einzige, das um die eigene Sterblichkeit weiß. Diese Wahrheit ist so entsetzlich, dass die Menschen sie schon ganz früh tief in ihrem Unwewußten vergraben, und das hat aus den Menschen Maschinen, Fabriken aus Fleisch und Blut gemacht, in denen Sin erzeugt wird. Dieser Sinn, an den sie glauben, veranlasst sie dann zu ihren Unsterblcihkeitsprojekten – ihre Kinder oder ihre Götter oder ihre Kunstwerke oder ihre Geschäfte oder ihre Nationen – von denen sie glauben, dass sie überleben werden […]. Wenn also jemand sein Leben für eine religiöse Überzeugung hingibt, hat er sich dafür entschieden, nicht für einen Gott, sondern im Dienste einer Unwewußten Urangst in den Tod zu gehen […]. Das ist meine Warnung an Dich. Das ist meine Verkehrswarnung. Die Verdrängung des Todes treibt die Leute in ihr frühes Grab, und wenn Du nicht aufpasst, reißen sie dich mit in den Tod“ (S. 414-415).
Für mich eines der schönsten Bücher dieses Jahres, ein hervorragendes Romandebüt und ein beeindruckendes Leseerlebnis, das noch lange nachwirkt, was sicher auch an der deutschen Übersetzung durch Clara Drechsler und Harald Hellmann liegt. Wer „Die alltägliche Physik des Unglücks“ von Marisha Pessl mit Gewinn gelesen hat und Gefallen etwa an den Romanen von John Irving findet, mag sich auch von der Fabulierkunst des Steve Toltz begeistern lassen.

„Es passiert Unglaubliches, wenn man nicht an die Seele glaubt! Die Leute sehen einen an, als wäre es mit der Seele genaus wie mit der Fee „Glöckchen“: Man muss an sie glauben, damit sie existiert. Ich meine, wenn ich eine Seele habe, ist es wirklich so eine, die meine moralische Unterstützung braucht? Ist sie dermaßen armselig? Die Menschen scheinen das zu glauben; wer die Seele anzweifelt, wird für sie zum Seelenlosen, zu dem eine, einsamen Geschöpf, das durch die Ödnis irrt ohne den magischen Stoff der Unendlichkeit …“ (S. 440).

10 Kommentare zu “Vatermord und andere Familienvergnügen : Roman / Steve Toltz

    • Ich mochte im Urlaub kaum von dem Buch lassen, obwohl ich meistens zwei, drei Sachen parallel lese.
      Gehaltvoll abtauchen – was will man mehr?!

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  1. Na denn schreibe ich es mir mal auf meine „beim nächsten Besuch im Buchmarkt schau doch mal nach“-Liste. Ich finde viele Verschwurbelungen ja gar nicht so schlecht, nur darf es dann halt – im Normalfall – nicht zu lang werden. Nach 220 Seiten Thomas Bernhard zum Beispiel bin ich zwar immer sehr glücklich, aber auch immer sehr geschafft.;-)

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    • Ok, aber ich glaube, mit Thomas Bernhard kann man Steve Toltz ganz sicher nicht vergleichen: die Erschöpfungsgefahr sollte also deutlich geringer sein bei hoffentlich hohem Glücksfaktor!
      Viel Spaß wünscht Dir
      Jarg

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  2. Das Buch habe ich vor etwas mehr als zwei Jahren gelesen und habe es auch heute immer noch sehr positiv in Erinnerung. Es ist ein richtiger Brocken und als Leser habe ich mich an einigen Stellen beinahe erschlagen gefühlt von dem fantastischen Ideenreichtum und den vielen Erzählsträngen die von Steve Toltz aufgeworfen werden. Gestört hat mich dabei vor allem, dass teilweise im Buch Ereignisse beschrieben werden, die so stark konstruiert sind, dass sie schon beinahe unrealistisch anmuten (darin ähnelt das Buch auch sicherlich dem von Marisha Pessl). Trotz dieser Kritik kann ich aber abschließend festhalten, dass es sich lohnt, die 800 Seiten zu lesen und bis zum Ende durchzuhalten, du solltest es also wirklich versuchen, lieber David.
    Geboten wird einem eine witzige, humorvolle, vor Ideen sprühende Familiengeschichte, die leicht und flüssig erzählt wird – aber auch immer wieder von Betrachtungen unterbrochen wird, die nachdenklich und traurig machen können und mich sehr berührt haben.

    Liebe Grüße
    Mara

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    • Dem ist nichts hinzuzufügen als der Wunsch nach einer nachhaltigen Lektüre für David! Danke für den Kommentar und liebe Grüsse von Jarg

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    • War auch erst am Zweifeln .. aber das Buch riss ,mich dermaßen mit, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen mochte.
      Für mich jedenfalls eines der bemerkenswertesten Bücher in diesem Jahr und Kandidat für meine persönliche 2012er-Bestenliste.
      Viele Grüsse von
      Jarg

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