So mancher Bahnreisende mag davon träumen, ob Pendler, Berufsreisender oder unterwegs zu Freundin, Freund, Verwandtschaft: einfach weiterzufahren, statt auszusteigen, vielleicht sogar viele Tage und Wochen davon. Ein ganzer Roman handelt davon (Sten Nadolny, Netzkarte, besprochen auf Jargsblog). Torsten Körner hat diesen Traum gewissermaßen noch ein Stück weitergetrieben und reist ein Jahr lang im Speisewagen durch Deutschland, dem Teil eines Zuges, den die Bahn einmal einsparen wollte und nach Protest von Reisenden beibehielt. Er begegnet den unterschiedlichsten Reisenden, alten oder jungen, verlebten oder glücklichen, nachdenklichen oder unbekümmerten, ständig arbeitenden oder Ruhe suchenden Menschen, die sich ihm für ein paar Stunden öffnen, ihre Träume, Ängste, ihr Glück und Unglück, ihre Freuden und Leiden mit ihm teilen in dieser temporär entstandenen Nähe. Und Körner erzählt von ihnen und ihren Geschichten und Gedanken, sensibel, einfühlsam und doch genau beoachtend. So ist sein Buch mehr als ein packender Erlebnisbericht und wird zu einem fein gezeichneten Porträt der deutschen Gesellschaft. Dabei ist Körner nie Voyeur, stellt seine Mitreisenden nie bloss: er verfremdet und verdichtet seine Geschichten aus dem Leben und bewahrt doch ihr Wesentliches, ihren Kern. Ihm entgeht auch nicht, dass die (Zug)Reise als Möglichkeit der unbefangenen Begegnung bedroht ist, nur noch dem schnellen Weg von A nach B dient und – damit die Zeit rasch vergeht – für Schreib- und Bürokram genutzt wird. So bevölkern sie in unserer hoch effizienten Zeit die Züge und den bedrohten Speisewagen, die „aktenfressenden Autisten“, die grauen „Zeitdiebe“ und „Laufburschen des Laptops“. Torsten Körner bricht eine Lanze für die Reise als Möglichkeit, einander etwas heutzutage unendlich kostbares zu schenken: Zeit, Aufmerksamkeit, Interesse, das miteinander Teilen, sich einander mitteilen. „Der Speisewagen ist ein Roman, den man lesen kann, wenn man sein Buch vergessen hat“ (Torsten Körner). Ein wunderbares Buch, dem viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind und an dessen Ende man sich mehr wünscht – und beschliesst, demnächst mal im Speisewagen zu reisen.
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