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Menschenkinder : Plädoyer für eine artgerechte Erziehung / Herbert Renz-Polster

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„Wir müssen nochmal grundsätzlich über die´Kindheit nachdenken. Ist sie wirklich nur eine Strecke, auf der sich Kinder für ihren Job warmlaufen? Warum ist sie so schnell von einem Projekt der Kinder zu einem Projekt der Erwachsenen geworden? Warum halten wir es so schlecht aus, wenn unsere Kinder in ihren eigenen Welten leben? Ist das wirklich nur die Angst vor möglichen Gefahren?“ (Herbert Renz-Polster: Menschenkinder, S. 68).
Stellen Sie sich vor, sie würden in der Steinzeit leben. Würden Sie a) ihr Kind nachts am anderen Ende der Höhle schlafen lassen, damit Sie Ihre Ruhe haben, es b) einfach stehen lassen, wenn es zum Jagen und Sammeln geht und Sie partout keine Lust haben, seinem Betteln nach dem Getragenwerden nachzugeben und c) einschreiten, wenn ein paar übermütige steinzeitliche Teenager mittags mit ein paar Glutnestern vom letzten Waldbrand herumspielen bzw. herausgefunden haben, dass man mit Feuerstein und Pyrit richtig gut Funken schlagen kann? Sie haben ein- bis dreimal mit „Ja“ geantwortet? Dann sollten Sie dieses Buch lesen, denn Ihr Kind wäre
a) nächtens vom Säbelzahntiger verspeist worden
b) vermutlich hinter ihrer eilig fortschreitenden Beerensammelgruppe verloren gegangen oder an einer schwierigen Stelle in die Schlucht gestürzt
c) Sie könnten nichts kochen, da sie soeben erfolgreich pubertierende Jugendliche mit ihrer altersbedingten Risikobereitschaft, Neugier und schnellen Auffassungsgabe daran gehindert haben, als erste Menschen das Feuer zu zähmen.
Kein Tier investiert mehr Zeit in die Aufzucht seines Nachwuchses wie der Mensch, kein Tiernachwuchs ist so lange auf beständige Unterstützung durch ältere Tiere angewiesen wie das Menschenkind. Herbert Renz-Polster, Kinderarzt zund Wissenschaftler am Mannheimer Institut für Public Health, forscht seit Jahren darüber, wie die Evolution unsere Kinder, ihre Verhaltensweisen und Entwicklungsschritte geprägt hat. Er räumt in „Menschenkinder“ auf mit den immer neuen, einander zum Teil vehement widersprechenden Theorien und Erziehungsmethoden, mit Kast-Zahn („Jeses Kind kann schlafen lernen“), Winterhoff („Warum unsere Kinder Tyrannen werden“), Bueb („Lob der Disziplin“), Amy Chua („Die Mutter des Erfolgs“) und all den anderen ach so schlauen Erziehungsratgebern und Elternschulen, die uns einreden wollen, wie es denn nun richtig geht, wie unser Kind rasch allein durchschläft, Gemüse ist, richtig (und richtig intensiv) gefördert wird, seine Grenzen lernt und sich zu disziplinieren lernt.
Stattdessen zeigt uns Renz-Polster, der das wissenschaftlich äußerst fundierte und als Streitschrift gedachte „Menschenkinder“ mit einiger Leidenschaft und durchaus auch Polemik geschrieben, die evolutionären Wurzeln der Kindesentwicklung auf, ohne dabei im darwinistischen Dogmatismus zu verharren: über viele, viele tausend Jahre sind die Entwicklungsschritte und Verhaltensweisen von Kinden von der Evolution geformt worden, konnten Kinder nur überleben, wenn sie die Nähe der Eltern suchten, wenn sie mit 18 Monaten, als das nächste Kind unterwegs war, zornig versuchten, alles allein zum machen, um sich abzunabeln, haben sie von anderen Kindern – älteren wie jüngeren – soziales Verhalten gelernt. Gleichzeitig räumt er mit Klischees auf wie der mütterlichen Intuition, dem Elternsein als „Spezialmixtur aus Liebe, Grenzen und erzieherisch wertvollem Spielzeug“, der angeblichen Wirksamkeit eines „Elternführerscheins“ und der gesamtgesellschaftlichen Neigung, den Eltern den schwarzen Peter zuzuschieben, wenn Erziehung „nicht klappt“. Unser Perfektionierungswahn geht ja mittlerweile so weit, dass wir schon die Geburt perfektionieren wollen, was zur Folge hat, dass nicht nur medizinisch eigentlich unnötige Kaiserschnitte überproportional zunehmen, sondern auch der Beruf der Hebamme akut vom Aussterben bedroht ist.
Stattdessen legt uns Renz-Polster nahe, auch die Irrationalität im Verhalten unserer Kinder zu akzeptieren und ihre Stärken zur Grundlage der Erziehung zu machen, statt in ihnen kleine Tyrannen oder Förderprojekte zu sehen. Vehement wendet er sich gegen zu frühe formale Bildung, gegen das „Treibhausmodell von Förderung“, dessen Wirksamkeit durch nichts belegt ist, gegen Leistungsdruck und Zensurenwahn.
„Die Welt ist in keinem guten Zustand. Aber wir wissen angeblich genau, was wir unseren Kindern beibringen sollten. Wirklich? Schauen wir uns nur unsere „hochgebildeten“ Eliten an: Sie sind mit Wissen und Fertigkeiten gut bestückt., in weiten Teilen aber sozial verwahrlost. (Wem das zu hart klingt, sollte die jüngste Finanzkrise studieren.) Wer eine bessere welt will, muss neue Bildungsziele definieren!“. (a.a.O., S. 178).
Immer wieder wird in Deutschland – sicher zu recht – über die Haltungsbedingungen etwa für Legehennen gestritten und um jeden Quadratzentimeter erbittert gefeilscht. Die Haltungsbedingungen von Kindern, die artgerechte Umgebung für Entwicklung und Sozialisation, sind dagegen kein Thema: stattdessen schrumpft der Spielraum, den Kindern in unseren Städten haben, dramatisch (seit den 70ern um mehr als 90%), widmen wir uns der individuellen, immer schnelleren Leistungsoptimierung der Erziehung, um unsere Kinder zu Siegern zu trimmen, statt das über Jahrtausende bewährte Modell der kooperativen Aufzucht wieder zu stärken. Wir schicken sie zum Logopäden und zur Ergotherapie und fragen uns nicht, warum sie das auf einmal nötig haben, was der Grund für all die Therapien, all den Defizitausgleich ist. Wir sind ständig bemüht, unseren Kindern die Welt zu erklären und zu öffnen und vergessen, dass Kinder sich die Welt selbst erklären und öffnen müssen.
„Womöglich baut eine gelungene Entwicklung aber genausogut auf Dinge, die Eltern ihren Kindern nicht mitgeben können. Dinge, bei denen Eltern vielleicht sogar einen Schritt zurücktreten müssen. Dinge, die Kinder besser untereinander regeln.“ (a.a.O., S. 73)
Dabei verkennt Renz-Polster durchaus nicht die Herausforderungen, vor denen die die moderne, hochtechnisierte und globalisierte Gesellschaft steht, ob Klimawandel, Energiewende oder das Gerechtigkeitsproblem: aber die Menschheitsgesellschaft hat u.a. nur deshalb nur so weit kommen können, weil es die durch Nähe geprägte frühe Kindheit und die heute durch kindlichen Termindruck und übervorsichtige Eltern vom Aussterben bedrohte gemischte Kindergruppe als „sozialen Erfahrungsraum“ gab.
Renz-Polsters Streitschrift endet mit „12 Thesen gegen das Erziehungsgeschwätz!“, die sich jeder Vater, jede Mutter, jede Lehrerin und jeder Erzieher, jeder Schulpolitiker oder Bildungsverwalter in den Spiegel hängen sollte, um morgens noch einmal zu vergegenwärtigen, worum es eigentlich geht: „Lassen wir die Kinder über uns Große hinauswachsen!“.
Ein wichtiges, undogmatisches und zur Diskussion anregendes Buch, das aufräumt mit zahllosen überflüssigen Erziehungsratgebern und uns hilft, gelassener zu werden, den Kindern den Raum, die Nähe, das freie Spiel und die Spielkameraden, die Freiheit und die Zeit zu geben, die sie brauchen, um gesund aufzuwachsen, Nach der Lektüre bin ich überzeugt: wir sollten dafür streiten, dass sie in unserer kinderfeindlichen Welt die „artgerechten“ Lebensbedingungen bekommen, die sie brauchen, um uns zu überflügeln, und uns die Angst nehmen lassen und das Streben, perfekte Elternschaft zu leben, weil es diese gar nicht geben kann und muss.
Und wenn Ihr Kind dann doch, mitten in der Lektüre, nochmal danach verlangt, das sie zu ihm ins Bett kriechen und es in den Arm nehmen, damit es einschlafen kann, dann tun sie das einfach und denken Sie daran: Ihr Kind trägt viele tausend Jahre Evolution in seinen Genen – und der Schutz vor dem Säbelzahntiger der längst vergangenen Steinzeit ist in diesem Moment wichtiger als Ihre kostbare Zeit!

4 Kommentare zu “Menschenkinder : Plädoyer für eine artgerechte Erziehung / Herbert Renz-Polster

  1. Plädoyer hin, Plädoyer her – die Gesellschaft bestimmt die Regeln, egal wie falsch die Regeln sind.
    Das beste Beispiel ist der Niedergang des Schulsystems. Wie viele Schulkinder bekommen schon in der Hauptschule Nachhilfeunterricht, nur um die Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Da läuft einiges schief. Wie schief zeigt ein Unterrichtsbeispiel meines Sohnes in der vierten Grundschulklasse: Das Thema war Brückenbauwerke. Welche Arten, welche Bauweisen von Brücken. Widerlager haben die Brücken auch noch. Und das in dem Alter. Zur Veranschaulichung der Funktionsweise eines Widerlagers bin ich mit ihm zu einer Straßenbaustelle (Neubau einer sehr hügeligen Ortsumgehung). An den teils fertiggestellten und im Bau befindlichen Bauwerken konnte ich ihm sein theoretisches Wissen veranschaulichen. Er konnte als Einziger in der Klasse die Fragen des Tests beantworten.
    C.H.

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    • Ja, das ist leider so mit der gesellschaft, die die Regeln bestimmt. Leider ist es schwer, mit solchen Ansätzen wie bei Renz-Polster durchzudringen, weil es etliche gibt, die persönliche Interessen daran haben. dass alles so bleibt – und das dann wunderbar mit ihren unbewiesenen Theorien begründen. Bin schon gepsannt, wie es meinen Zwillingen ab Herbst in der Grundschule gehen wird, und sehe mit gemischten Gefühlen dieser Zeit entgegen!!

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    • Gern geschehen. Das Buch macht auf jeden Fall gelassener – aber auch wütend, weil man gegen Windmühlen käpfen müsste, um zu verändern, was es eigentlich alles zu verändern gälte!

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